der herbstsommer
Teil 2
Lesezeit: 12 Minuten
Charlotte. Charlotte. Da im Eingangsbereich hatte sie gestanden. Charlotte. Nach all der Zeit. Henrik war danach nochmal zur Basis gefahren, während Franz schon im Haus geblieben war. Geschrien hatte Henrik dabei, gejauchzt. Der Jeep war über die unebene Wüstenstraße gerattert, Henriks Herz wurde ihm durch die Brust geschleudert und seine Hand stand hoch gen Sonne, triumphierend aus dem dachfreien Gefährt gestreckt. Charlotte! hatte sein Geist geschrien und er hatte Kampflaute ausgestoßen, so bunt und wild, wie es sonst nur die eingeborenen Völker hier taten. Er hatte gelacht, während der Geländewagen rasend vor Freude um die Kurven gerauscht war. Wie lange hatte Henrik nicht mehr so gelacht. Er hatte gelacht, bis ihm der Bauch wehgetan hatte und die Wangen zu zittern begonnen hatten. Charlotte. Charlotte. Etwas geschah mit ihm, wenn er sie sah. Jedes Mal. Es war ihm dann, als wäre er urplötzlich trunken. Es begann in seiner Brust ein warmes Kitzeln, das sich im Magen ausbreitete. Dann wurden seine Füße schwach, so als ob er ohnmächtig würde. Er schüttelte immer seine Hände und neigte den Kopf hin und her, als ob er gleich einen Sprint hinlegen wollte. Und sein Gesicht. Das hatte dann kein Halten mehr, die Mundwinkel fanden ihren Weg nach oben, die Lippen öffneten sich und ein Grinsen, breiter als die Steppen Afrikas, tat sich auf. Es war wie ein Rausch. Und Henrik gab sich ihm hin, gerne. Es dauerte immer ein paar Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Dann gluckste er vor sich hin, unbeschwert wie ein Kind. Als hätte er Gottes Antlitz geschaut und nun wäre alle Last von ihm gefallen. Charlotte. Charlotte. Es war doch egal, dass er sie nicht haben konnte. Es war doch egal, dass die Welt sie trennte. Es war nur wichtig, dass es sie gab. Dass sie atmete, ihn ansah und mit ihm sprach. Wie kurz der Austausch auch sein mochte, wie flüchtig ihr Blick. Nur eine Sekunde ihrer Aufmerksamkeit und Henriks Herz öffnete sich wie sonst nie. Dass es so etwas Schönes gab. So etwas Schönes wie Charlotte. Es machte keinen Sinn, sie beide machten keinen Sinn, aber das mussten sie auch nicht. Denn Henrik würde nie etwas mit seinen Gefühlen anfangen. Er würde sie nur genießen.
Charlotte. Charlotte, draußen vor dem Haus. Sie lief wild umher, vor ihr zig Wäscheleinen gespannt, als Henrik eines Nachmittags von der Basis kam, froh den Rest des Tages nicht mehr arbeiten zu müssen. Er stellte den Jeep vor dem Haus ab und der Wind wehte ihm wirr ums Gesicht als er auf sie zuging. Charlotte griff sich ein weißes Wäschestück um das andere – Bettwäsche, Tischtücher, Handtücher – und warf es hastig in den Korb neben ihr. Henrik hielt sich die Hand vors Gesicht und starrte gen Himmel. Die Wolken kamen schnell, die Sonne hatten sie schon lange verdrängt. Von weitem konnte man das erste Donnerrollen vernehmen. Das Regenwetter hatte sie alle auf kaltem Fuß erwischt. Es war die falsche Jahreszeit dafür.
„Wo sind deine Zofen?“, fragte Henrik, als er nah genug bei Charlotte war, „Helfen sie dir nicht?“
Die deutete nur aufs Haus hinter ihr.
„Die versuchen das lose Fenster in der Bücherei zu befestigen, damit es nicht nass werden wird im Inneren. Franz wollte es schon längst reparieren, aber wer rechnet denn mit Regen?“
Sie schüttelte den Kopf in diesen klitzekleinen Bewegungen und presste dabei die Lippen aufeinander, so wie nur sie es machte.
„Soll ich den Mägden zur Hand gehen?“, bot Henrik an, doch als ein Blitz am Horizont auffuhr, machte er einen Schritt weiter auf Charlotte zu und griff stattdessen nach einer Bettdecke, die unkontrolliert im Wind flatterte.
„Ich helfe dir“, sagte er und Charlotte schenkte ihm ein angestrengtes Lächeln, konzentriert zu einer weiteren Wäscheleine hastend.
Charlotte. So war sie. Immer ernst, intensiv. Ihr Kopf neigte immer etwas nach unten, das Kinn eingezogen, als ob das Leben ihr etwas entgegenschleudern würde von dem sie sich abwenden müsste. In ihrer Stirn zeichnete sich immer eine kleine Furche ab und die Augenbrauen zog sie zusammen, als ob sie all die Zeit über etwas äußerst Kniffliges nachdenken müsste. Sie schien immer gedankenverloren, selbst wenn sie mit einem sprach. Als ob zwischen ihr und dem Rest der Welt eine unsichtbare Glaswand wäre, hinter die niemand außer ihr gelangte. Sie war manchmal fast einem Felsen gleich, direkt vor einem, aber undurchdringbar. In seinen Briefen beschrieb Franz seine Gattin immer als die Sonne, die sein Heim erstrahlte. Henrik hatte das noch nie verstanden. Er fragte sich wer von den beiden Männern Charlotte tatsächlich kannte. Denn eine Sonne war Charlotte bestimmt nicht. Sie war mehr wie das Gewitter, das über ihnen aufzog. Beunruhigend, aber elektrisierend und wie ein Naturspektakel von dem man die Augen nicht lassen konnte. Sie war die Einzige, die je in Henrik solche Wogen der Gefühle ausgelöst hatte. In Henrik, diesem ruhigen, nüchternen Mann. Henrik war ein zufriedener Mensch. Er hatte Zeit seines Lebens ein Dach über dem Kopf gehabt und Essen auf dem Tisch. Aber es war entbehrlich gewesen. Er kannte das Leben ernst und der Ernst war sein Leben. Aber das erzürnte ihn nicht oder machte ihn lakonisch. So war das Leben nun mal und so war es gut. Henrik war zufrieden, er hatte keinen Grund es nicht zu sein. Er arbeitete hart, schwieg wenn er nichts zu sagen hatte, sprach wenn er etwas beitragen konnte und lachte, wenn er in Gesellschaft seiner wenigen, alten Freunde war. So war sein Leben und es fühlte sich an, als ob es für jemanden wie ihn auch genauso sein sollte. Er fühlte sich normal. Er fühlte selten viel. Außer er fühlte Charlotte, dann fühlte er alles. Dann stieg ihm die Luft in den Kopf und das Jauchzen ins Herz und er ließ sich treiben, für die Minuten die es dauerte. Und dann wurde er wieder nüchtern. So war sein Leben und so war es gut. Henrik hatte nie daran gedacht etwas an seinem Leben zu ändern. Etwas an ihm und Charlotte zu ändern. Einmal, da hatten die beiden sich geküsst. Es war im Herbstsommer gewesen. Jeden Herbstsommer dachte Henrik daran, für einen kurzen Augenblick und dann freute er sich, dass es passiert war. Und dann lebte er weiter. Vor ein paar Wochen, als er in das Haus der Winterfelds gezogen war, hatte er wieder daran gedacht. Und er wusste, dass es auch Charlotte so gegangen war. Bei Gott, es war sogar das Erste gewesen über das die beiden gesprochen hatten. Wenn auch nur zwischen den Zeilen. Es hatte ihn gefreut, dass Charlotte sich noch daran erinnerte. Tatsächlich hatte er aber nie daran gezweifelt. Es war ein Moment gewesen zwischen den beiden, so ein Moment der zur lebhaften Erinnerung wurde und bald zu einer halbwahren Geschichte, weil die Gedanken sich in immer neuen Details verloren, das Geschehene analysierten in der Hoffnung es für immer festzuhalten, doch in Wahrheit nur verfälschten. Der Kuss war ohnehin nur deswegen geschehen: Weil Henrik wusste, es würde bloß eine Geschichte werden und keine Wahrheit. Sie hatten verstecken gespielt, im Kornfeld. Sie waren eigentlich schon zu alt dafür gewesen, aber den zwei jüngeren Geschwistern von Franz hatte man schwer einen Wunsch abschlagen können. Charlotte hatte fast jeden Sommer bei den Winterfelds verbracht. Henrik hatte Charlotte gemocht, weil sie immer dieselbe war. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt als sie noch ein kleines Mädchen ohne Sorgen gewesen war und sie hatte ihren ernsten Blick behalten, als sie eine junge Dame geworden war und das Leben ihr die ersten Prüfungen stellte. Henrik hatte Dinge, die gleich blieben, schon immer gemocht. Seine ersten Jahre auf dieser Erde waren schwer gewesen, gezeichnet von Veränderungen. Seine Mutter hatte ihn in dieses Dorf geschleppt, in jene Stadt, auf der Suche nach Arbeit. Sie hatten bei diesen Männern gelebt und waren bald vor jenen Problemen geflüchtet. All das hatte ein Ende gehabt, als seine Mutter bei den Winterfelds Kindermädchen geworden war. Alles war stetig geblieben von da an. Stetig und normal. Charlotte hustete plötzlich neben Henrik, als der Wind ihr die Haare und Wäsche ins Gesicht blies. Sie kämpfte sich aus den Verstrickungen hervor und widmete sich erneut der Wäscheleine. Damals war es nicht der Husten gewesen, der Henrik aufmerksam hatte werden lassen. Sie hatten sich im Feld versteckt und etwas hatte Charlotte gestochen. Henrik hatte gar nicht gewusst, dass sie nur ein paar Ähren neben ihm gesessen war, bis sie plötzlich einen Schwall an Schimpfwörtern aus ihrem wohlhabenden Mund fallen ließ. Es waren Worte, schlimmer als alle die Henrik je in den Gossen seiner früheren Heimaten gehört hatte.
„Charlotte?“, hatte er gefragt und war auf den Knien durch die Erde zu ihr gekrochen.
Und als er dann plötzlich neben ihr gesessen hatte, hatte sie ihn mit großen Augen angesehen. Sie hatte nicht gedacht, dass jemand sie hören würde. Und für einen kurzen Augenblick war der Ernst aus ihrem Gesicht gewichen, während ihr Blick sich überrascht geweitet hatte. Aber dann hatte sie sich sogleich wieder gefangen. Und da wusste Henrik es. Er wusste, dass er tun konnte, wovon er schon den ganzen Sommer und all die davor geträumt hatte. Charlotte war stetig. Charlotte war zufrieden. Sie war nicht eines dieser reichen Mädchen, von denen man manchmal hörte. Sie war nicht streng und verschlossen, weil sie sich in diesem wohlhabenden Leben nicht gefiel. Sie wartete nicht auf eine Möglichkeit aus diesem goldenen Käfig zu entfliehen. Sie blieb bereitwillig hinter goldenen Gittern, hinter ihrer eigens kreierten Wand. Sie war ernst, weil sie ernst war. Weil sie Charlotte war. Und Henrik war Henrik. Auch er kannte die Regeln dieses Lebens, das sie lebten. Dieser Gesellschaft, deren Teil sie waren. Sie waren gute Kinder. Sie würden spielen können, ohne etwas anzustellen. Also war er vorgerutscht auf seiner durchlöcherten Arbeitshose und hatte die Arme in den Matsch gestützt. Dann hatte er sich vorgebeugt, immer näher zu den tiefbraunen Augen, die nie unter die Oberfläche blicken ließen. Und dann – hatte er sich nicht getraut. Er war dort verharrt, in dieser ungewöhnlichen Position, viel zu nah dem Mädchen von dem er nachts träumen würde, wenn er es sich bloß erlauben würde. Charlotte hatte ihn angesehen. Sie war nicht verschreckt gewesen, nicht angeekelt und auch nicht erfreut. Sie war einfach Charlotte gewesen. Ihr Blick war streng gewesen, die Stirn in Falten gelegt und die Gedanken sicher hinter der Glaswand. Doch dann – langsam – hatte sich ihre verzwickte Miene gelöst. Doch es war nicht als ob sie ihre Fassade ablegen würde, denn es war keine. Es war eher als würde sie Henrik eine Brücke anbieten, auf ihre Seite der Wand zu kommen. Und das tat er dann, als sie es war, die den entscheidenden Schritt tat. Als sie ihre sanften Lippen auf seine legte, warm und salzig vom Herbstsommerschweiß, unbeholfen und doch entschieden in diesem Schritt heraus aus der Kindheit. Es war die Erfüllung all seiner Träume, die er sich nie träumen ließ. Es war noch mehr. Doch er wäre verrückt geworden, hätte er sich erlaubt länger in diesem Moment zu verweilen, als die kurzen Sekunden die er angedauert hatte. Hätte er sich erlaubt in den kommenden Tagen, Monaten, Jahren seine Gedanken dorthin zurückschweifen zu lassen, zu jenem Tag im Herbstsommer, im Kornfeld. Henrik war ein nüchterner Mann. Er war kein Träumer. Henrik baute keine Luftschlösser, denn er wusste sie könnten niemals Wahrheit sein.
Charlotte. Charlotte rief ihm etwas zu.
„Wir müssen uns beeilen!“, sagte sie aufgeregt und ihre unruhigen Augen musterten die Wolken, die sich über ihnen aufgetürmt hatten.
Henrik schüttelte einmal kurz den Kopf, um sich von seinen Gedanken zu befreien, dann griff er erneut nach den Wäschestücken. Nur zwei weitere Wäscheleinen waren übriggeblieben und sie bildeten einen stürmenden Korridor, durch dessen Inneres sich die beiden nun vorkämpften. Sie standen auf entgegengesetzten Seiten und Wäschestück um Wäschestück traten sie aufeinander zu. Wenn Henrik tagträumen würde, dann würde er sich vorstellen wie er die letzten Meter zwischen ihnen schließen würde. Wie er vor ihr stehen würde, von der wehenden Wäsche geschützt vor neugierigen Blicken der Mägde. Wie er wiederholen würde, was damals im Kornfeld geschehen war. Er könnte es doch, oder nicht? Es wiederholen? Es würde schließlich nichts ändern. Es hatte doch auch damals nichts geändert. Gar nichts. Und das war gut so, war es was Henrik sich stets vorsagen würde – wie ein Mantra – wenn er es denn überhaupt je anzweifeln würde. Henrik blickte auf, zu Charlotte, deren Haar im Sturm flatterte. Er fragte sich, ob das Wetter bei ihr genauso viele Gedanken aufwirbelte wie bei ihm. Doch ihre Gedanken prallten ab an ihrer Glaswand, wie immer. Der erste Regentropfen fand seinen Weg auf Henriks Wange. Er nahm ein Wäschestück. Ein weiterer Regentropfen. Wäschestück. Regentropfen. Jetzt standen sie voreinander, in ihrem Korridor, der nur noch von zwei Leintüchern auf beiden Seiten aufrechterhalten wurde. Charlottes unleserlicher Blick traf ihn. Sie war ihm so nah, dass er ihre Wärme spürte, während der Wind ihm die Nackenhaare aufstellte.
„Ist das nicht absurd?“, fragte er, „Unwetter mitten in der Trockenzeit?“
Charlottes Augen musterten ihn.
„Das hatten wir vor ein paar Jahren schon einmal. Da kam der Sturm einige Wochen bevor es soweit sein hätte sollen.“
Henrik sah auf ihre Lippen, wie sie sich elegant um ihre Worte legten.
„Ich nenne es die Vorregenzeit“, sagte Charlotte.
Und da war es. Er konnte tun was er wollte. Denn es würde nichts geschehen. Es würde nichts ändern. Es war Vorregenzeit. So wie es damals Herbstsommer gewesen war. Diese kurze Zeitspanne im Kreis des Jahres, die mehr ein Gefühl war, als dass es sie wirklich gab. Die eine Erfindung war von Charlotte. Die eine Erlösung war für ihn. Ein kurzer Moment. Ein kurzer Moment, an den er sich für immer erinnern würde, der eine Geschichte werden würde, die er sich vor dem Einschlafen erzählte. Es war keine Wahrheit, es konnte nie Wahrheit werden. Sie war die Frau seines besten Freundes. Aber es musste auch nicht Wahrheit werden. Es sollte bloß ein Gefühl sein, ein Gefühl, das er für ein paar Sekunden genießen würde. Henrik bückte sich langsam nach vorne, hier in ihrem Versteck zwischen den Wäschestücken in der Vorregenzeit. Doch dann stoppte er, als die Furchen sich tiefer in Charlottes Stirn gruben. Ihr strenger Blick starrte in seine Augen, die sich nicht an ihren sattsehen konnten. Ihre Nase bebte und kurz sah es aus, als ob sie wieder eine Horde an Schimpfwörtern loslassen würde. Ihr Atem wurde schneller und sie öffnete ihren Mund. Doch plötzlich schüttelte sie den Kopf in ihren typischen schnellen Bewegungen und ein tiefer Seufzer entkam ihr. Und dann fuhr sie ihre Brücke herunter, Henrik nahm ihre Hände und stieg hinter die Wand. Sie war immer noch Charlotte. Immer noch ernst und streng und unleserlich. Immer noch nur eine Geschichte in der er sich verlor, immer noch keine Wahrheit. Aber ein Moment. Dieser Moment. Henrik wusste nicht was sie dachte, als ihre Lippen schließlich seine fanden. Aber er wusste was sie fühlte. Dasselbe wie er.
Alles.
ende