Das liebesgedicht
Teil 2
Lesezeit: 12 Minuten
„Junge, dafür, dass du meinst dieses Mädchen sei die Liebe deines Lebens, weißt du erstaunlich wenig über sie“, hatte Durand gerade gesagt.
Louis´ Augen leuchteten auf und er zeigte auf den Mann, als wäre der Junge ein Quizmaster und Durand hätte gerade die alles entscheidende Frage gelöst.
„Genau das ist ja das Problem“, rief er aufgeregt aus, „Sehen Sie, Elisa habe ich auf dem Spielplatz vor meinem Zuhause kennengelernt. Ein paar Wochen lang ist sie jeden Montag und jeden Dienstag da gewesen. Jedes Mal nach der Schule habe ich mir zu ihr gesellt, natürlich habe ich das, sie ist ja das fabelhafteste Wesen mit dem man nur seine Zeit verbringen kann. Doch jetzt, seit einiger Zeit, da taucht sie nicht mehr auf.“
Louis ließ seinen Kopf hängen und zog eine enttäuschte Schnute.
„Deswegen muss morgen dieses Gedicht in der Zeitung stehen! Sie hat gesagt, der Valentinstag ist ihr liebster Tag im Jahr, weil ihr Vater da sie, ihre zwei Schwestern und ihre Mutter immer auf eine Süßigkeiten-Tour durch Brüssel einlädt. Dann dürfen sie alles essen was sie wollen – Schokolade, Waffeln, Eis. Und wenn nun in der ganzen Stadt in allen Zeitungständen auf Ihrer Zeitung am Titelblatt mein Gedicht steht – dann wird sie bestimmt wieder zum Spielen vorbeikommen. Und dann wird auch sie sich in mich verlieben und wir werden ein Paar werden und in ein paar Jahren, da werden wir dann heiraten. Sie können dann auch zur Hochzeit kommen, wenn Sie wollen!“
Den letzten Satz hängte der Junge ein wenig verzögert an seine Rede, als wäre er ihm gerade erst eingefallen und als würde ihm das bestimmt die Zustimmung Durands sichern. Der aber starrte den liebeskranken Louis nur mitleidig an, den Buben der noch viel zu jung für die Liebe war und dem es wohl nicht einmal in den Sinn gekommen war, dass diese Elisa ihre Eltern vielleicht dazu gedrängt hätte sie wieder auf den Spielplatz zu bringen, hätte sie Louis tatsächlich wiedersehen wollen. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er dem Kind das nicht einfach beibringen sollte, doch dann stoppte er sich. Durand hatte zwar wirklich kein Herz für die Jugend und all ihre Hirngespinste, aber das hieß doch nicht, dass er das von Louis mit der Wahrheit brechen musste. Seine Frau ermahnte ihn immer, er solle nicht so unwirsch mit anderen Leuten umgehen, aber eigentlich hatte er sich geschworen nicht auf sie zu hören, solange sie so forsch mit ihm war und alle paar Tage einen Streit vom Zaun brach.
„Und du hast dir also gedacht, wenn du hier bei mir frühmorgens hereinschneist, dann erfülle ich dir deinen Wunsch so einfach?“
Der Junge nickte.
„Es ist doch für die Liebe.“
Durand musste sich ein Lachen verkneifen und fragte sich, ob ihm als Kind die Welt auch so simpel erschienen war. Er ging zum Fenster und öffnete es einen Spaltbreit, sodass die erste sonnengewärmte Luft hereinströmte und Vogelgezwitscher das Arbeitszimmer füllte. Dann schüttelte er amüsiert den Kopf. Wie einfach sich der Bub das doch vorstellte und wie absurd es deshalb war, dass er nun hier saß, vor dem Chefredakteur, dessen Job in Wahrheit nichts mit der Bitte von Louis zu tun hatte. Im echten Leben nämlich wäre das Gedicht ein persönliches Inserat, ja vielleicht sogar eine Werbeschaltung und dafür musste man sich an die Werbeabteilung wenden, dieser administrative Unsinn war zwar wichtig für das Blatt, interessierte Durand aber herzlich wenig. Und außerdem, was dem Jungen das kosten würde! Sie druckten über 35.000 Stück jeden Tag und im Internet, von dem der kleine Junge ja verbannt war, hatten sie eine Leserschaft von fünf Millionen. Eine kleine Werbeschaltung kostete schon einige hundert Euro, die Titelseite befand sich da in ganz anderen Preissphären. Und selbst wenn all diese Dinge die Publizierung des Textes nicht verhindern würden:
„Ich halte nichts von Liebesgedichten“, meinte Durand bestimmt, „Und schon gar nichts halte ich davon sie in angesehen Zeitungen zu veröffentlichen, noch weniger in meiner eigenen.“
Hier stoppte er und holte ein kleines Büchlein von dem Beistelltisch seiner Kaffeemaschine, dann legte er es vor den Jungen. Louis wischte einige Kekskrümel vom Einband und versuchte den Namen des Autors zu entziffern, doch nach ein paar Versuchen gab er auf, weil der ausländische Name ihm nichts sagte. Durand ließ das Fenster offen - worüber der Junge froh war, weil er hoffte, dass die romantischen Balzrufe der Vögel den Mann der Liebe gegenüber milde stimmen würden – und setzte sich wieder in seinen Sessel hinter den Schreibtisch. Er deutete auf das Buch.
„Das ist einer meiner Lieblingsdichter“, erklärte er, „Weißt du was der über Liebesgedichte sagt? Er sagt, Liebesgedichte solle man nie im Leben abdrucken, denn unechte sind zu schlecht und echte viel zu gut, um sie den Leserherzen zuzumuten.“
Louis schob das Büchlein von sich weg, legte die Arme auf den Tisch und zog sich daran hoch, sodass er nicht länger im Ledersessel versank, sondern größer und erwachsener aussah.
„Ich glaube, sie können Ihren Lesern schon ein wenig mehr zutrauen.“
Durand zog seine Augenbrauen in die Höhe.
„Ist das so?“
„Ja,“ Louis nickte, „Und ich verspreche Ihnen, mein Gedicht ist wirklich lesenswert. Hier.“
Er streckte Durand den Zettel hin, der schon ganz zerknittert war, weil der Junge ihn während ihres Gesprächs stetig auf und wieder zu gefaltet hatte. Der Chefredakteur nahm ihn zögernd entgegen und starrte das Papier dann unbeeindruckt an.
„Na, lesen Sie“, forderte Louis ihn auf.
Durand seufzte und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk, ein Geschenk seiner Frau zu ihrem dreißigsten Jahrestag. Er presste die Lippen aufeinander, als er sich fragte, ob sie ihm denn dieses Jahr am Tag der Liebenden auch etwas schenken würde oder ob sie ihm immer noch böse war. Nicht dass ihn die Geschenke kümmerten, die sie ihm immer besorgte und von denen sie ihm dann mit stolzgeschwellter Brust erzählte wie schwer es nicht gewesen war dieses Einzelstück oder jenes Erbstück zu ergattern. Gerade so als erwarte sie, dass er zum Dank vor ihr auf die Knie fiel für irgendeinen Schnickschnack, nach dem er überhaupt nicht einmal gebeten hatte. Aber dass sie wieder einmal wütend auf ihn war und gekränkt wegen etwas an das er sich nicht einmal erinnern konnte, das konnte ihm wirklich gestohlen bleiben. Er verstand die Frauen nicht, die Frauen und ihre Probleme, die sie immer herbeifantasierten und die sie dann stützen wollten auf irgendwelche Aussagen ihrer Ehemänner, die diese angeblich am Mittwoch, dem 14. September vor drei Jahren getätigt hatten. Seine Frau konnte ihm meistens zusätzlich noch aufzählen wo sich die beiden befunden hatten, was sie an diesem Tag getragen hatte und welche Uhrzeit es war als Durand der verpönte Sager aus dem Mund gerutscht war. Er seufzte erneut und sah Louis an, der ihn immer noch hoffnungsvoll anstarrte. Der Junge sollte doch froh sein, solange es noch keine Frau an seiner Seite gab, die er unabsichtlich beleidigen und zutiefst kränken konnte. Durand konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, je so jung gewesen zu sein wie der Bub und schon gar nicht daran, ob er damals auch illusorischen Mädchen hinterhergerannt war. Fast noch weniger konnte er nach all den Jahren der Ehe daran zurückdenken, wie es war frisch verliebt in seine Angetraute gewesen zu sein. Er blickte noch einmal auf seine Uhr, fast eine Stunde seines Sonntags hatte der Rabauke ihm nun schon gestohlen, und dann blieb sein Blick an der Gravur am Ziffernblatt hängen. Das hier ist kein Liebesgedicht stand dort und Durand hörte plötzlich das Lachen seiner Frau in den Ohren, damals als sie ihm das Geschenk zu ihrem Jahrestag überreicht hatte. Sie wisse doch wie sehr er Romantik und allzu überbordende Liebesgeständnisse hasste, hatte sie gemeint, also wolle sie auf der Uhr schriftlich festhalten, dass es sich um keine schmalztriefenden Worte handelte, so wie sie sie immer von ihm zu Anlässen verlangte, sondern lediglich um eine stinknormale Uhr, ohne jegliche weitere Bedeutung. Durand schmunzelte. Er fragte sich, ob er manchmal nicht zu hart zu seiner Frau war, nach so vielen Ehejahren nahm er sie ab und an als gegeben hin und störte sich an all ihren kleinen Ticks und Quengeleien, sodass er dabei ganz vergaß, dass er es doch eigentlich gar nicht so schlecht getroffen hatte. Es gab schließlich keine andere, die ihn so kannte wie sie, die mit ihm so viel durchgestanden hatte wie sie und mit der er lieber streiten würde als mit ihr.
„Na, lesen Sie“, forderte Louis ihn erneut auf.
Durand nahm den letzten Schluck von seinem Kaffee und tat wie ihm geheißen. Nach ein paar Minuten sah er erstaunt von dem Text auf und in die erwartungsvollen Augen seines kindlichen Gegenübers.
„Das ist gut“, sagte er überrascht, mehr zu sich selbst als zu dem Jungen.
Der schien kurz stutzig.
„Natürlich ist es das“, meinte er nonchalant, „Glauben Sie denn ich gebe ein schlechtes Liebesgedicht in Ihre Zeitung?“
Ein paar Minuten später schon fand sich der kleine Junge vor Durands Eingangstür wieder, mit einem Liebesgedicht weniger in seiner Hand und einem breiten Lächeln im Gesicht. Er würde seine Elisa für sich gewinnen und wenn sie erst seinen Text lesen würde, würden die beiden für immer ein Liebespaar sein. Er hüpfte pfeifend die paar steilen Stufen hinunter und wandte sich dorthin woher er gekommen war, von hier konnte er hineinsehen bis in das mittlerweile geschäftige Brüssel. Er konnte den Ruf der Stadt förmlich hören, der morgen Elisa und ihre Familie anziehen würde, sodass sie an unzähligen Zeitungständen vorbeiflanieren würden und alle hätten sie seine Liebesbekundung auf der Titelseite. Louis ging über die holprigen, jahrhundertealten Gassen nach Hause, vorbei an einem kleinen sonnengefluteten Café auf dessen Terrasse unzählige Menschen saßen und an diesem lebhaften belgischen Sonntagvormittag tratschten, lachten und liebten. In dem Reihenhaus aus dem er gerade gekommen war, polterte Durand in seinem burgunderfarbenen Morgenmantel die Stiege hinauf und der schrille Weckerton seiner Frau surrte im Inneren des Hauses umher, doch für ihn hörte es sich an wie eine Melodie zu der er mitsummte. Er wusste, dass Louis´ Liebelei höchstwahrscheinlich nur ein Hirngespinst seines kindlichen Verstands war und dass das Liebesgedicht, das er gerade eben an sein Sonntagsteam der Belgischen Tagespost weitergeleitet hatte, diese Elisa womöglich gar nie erreichen würde. Und er wusste, dass seine Frau ihm einen bösen Blick zuwerfen würde, wenn er nun ins Schlafzimmer kommen würde und noch immer würde er sich nicht bei ihr entschuldigen können, denn noch immer wusste er nicht worüber sie eigentlich wütend war. Aber er wusste, wenn seine Frau morgen die Zeitung von der Veranda holen würde, an einem verschlafenen belgischen Montagmorgen, und auf der Titelseite ein Liebesgedicht sah, dann würde er ihr sagen, dass er es für sie geschrieben hätte. Und dann würde wieder die Sonne scheinen in ihrem Reihenhaus neben dem Park.
Ende