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Das liebesgedicht

 Teil 1 

 Lesezeit: 10 Minuten 

Es war ein verschlafener belgischer Sonntagmorgen und die Sonne schien sanft auf ein kleines Café, in dem sich nur Frühaufsteher wiederfanden. Neben dem Lokal führte eine gepflasterte Gasse entlang und einen flachen Hügel hinauf, der in einem kleinen Park endete. Von dort konnte man hineinsehen bis in die noch nicht erwachte Innenstadt Brüssels. Aber es war niemand da, der sich dorthin auf den Weg zu einer Waffel machte oder sich auch nur nach dem Ausblick umdrehte. Nur ein kleiner Junge ging über die holprigen, jahrhundertealten Gassen und er ließ sich nicht ablenken vom Ruf der Stadt. Von fern hörte man die Tram vorbeirauschen, irgendwo ging ein Autoalarm ab und wurde bald wieder gestoppt, während der Junge unbeeindruckt von Brüssels ersten morgendlichen Streckübungen auf ein Ziel zusteuerte. Er hüpfte ein paar steile Stufen hinauf bis zum Eingang und stellte sich auf seine Zehenspitzen, um gegen die Fensterscheibe der Tür zu klopfen. Dreimal schon hatte er es vergebens versucht, bis er hinter der Topfpflanze, die ebenso groß war wie er, vorbeilugte und dahinter eine Klingel vorfand. Die drückte er und eine bekannte Melodie hüpfte im Inneren des Hauses umher, während der Junge sie draußen mitsummte. Ein Poltern kam von der Stiege auf der anderen Seite der Eingangstür, dann wurde ebendiese geöffnet. Ein mittealter Mann mit ergrauendem Haar stand da, eben erst aufgewacht, in seinem burgunderroten Morgenmantel und beäugte den kleinen Ruhestörer.

„Ja?“, fragte er, die Augenbrauen zweifelnd hochgezogen.

„Ça va?“, sagte der Junge zur Begrüßung, „Ich möchte bitte mit dem Chefredakteur der Belgischen Tagespost, Herrn Durand, sprechen. Das sind doch Sie?“

Durand nickte skeptisch und band sich seinen Morgenmantel fester, als ein morgendlicher Windstoß den Weg durch sein Viertel machte.

„Sehr gut, ich habe etwas, dass Sie bitte in Ihrer Zeitung veröffentlichen sollen. Am Titelblatt, wenn das denn geht. Das wäre sehr hilfreich.“

Durand entkam ein entsetztes Lachen, als er den Jungen diese Worte von sich geben hörte. Ein kleiner Bub, kaum zehn Jahre alt, der von ihm verlangte die Schlagzeile von seinem preisgekrönten Nachrichtenblatt für ihn freizumachen?

„Es geht um ein Liebesgedicht“, plapperte der Junge weiter und Durand sah entnervt auf den morgendlichen Störenfried herab.

Das Letzte was ihm an seinem Wochenende gefehlt hatte, war ein amouröser Jungspund auf seiner Veranda, der ihm seine Literatur andrehen wollte. Der Bub hatte sich herausgeputzt, er trug einen karierten Anzug, der ihm schon ein wenig zu klein geworden war. Die Haare jedoch waren bloß hastig zurückgekämmt und die Krawatte augenscheinlich nicht von einem Erwachsenen gebunden. Durand fragte sich, ob die Eltern des Buben überhaupt wussten, dass er hier war.

„Ein Liebesgedicht?“, grummelte der Mann und machte ein abwertendes Geräusch.

„Ja“, meinte der kleine Junge, „Für Elisa, die Frau meines Lebens.“

Der Ruhestörer ließ seinen Blick über den Mann hinaufgleiten und betrachtete das Reihenhaus vor dem die beiden standen. Es war aus Backstein und hatte ausladende Fenster mit modernen, industriell anmutenden Rahmen und bestimmt vier Stockwerke, wenn nicht mehr.

„Das ist ein sehr schönes Zuhause“, sprach er weiter, „Wenn ich groß bin, dann will ich Elisa und mir auch so ein nettes Reihenhaus kaufen.“

Mit diesen Worten trat der Bub wie ganz selbstverständlich neben Durand durch die Tür hindurch und machte damit weiter, sich mit großen Augen die exquisite Inneneinrichtung des teuren Gebäudes anzusehen. Entgeistert wandte der Mann sich nach dem Eindringling um, der seinen Blick nun erwartend auf ihn gerichtet hatte und sich an dem Marmortisch anlehnte, den Durands Frau neu erstanden hatte und über dessen unverschämt hohen Preis die Eheleute eine ganze Woche lang gestritten hatten.

„Mein Name ist übrigens Louis“, sagte er beiläufig und dann, „Wollen wir uns in Ihr Büro begeben?“

Durand verschluckte sich und hustete mehrmals, bevor er langsam wieder Luft bekam.

„Was, was, was…in mein Büro begeben?“, stotterte er wirr, „Du kannst dich gefälligst wieder aus meinem Haus begeben, das ist was du machen kannst!“

Louis legte seine Stirn in Falten und spielte mit dem Zettel in seiner Hand, auf dem er gestern Nacht Stunden nach seiner Bettruhe noch das Gedicht verfasst hatte. Er hatte die vergeudeten Zettel in seinem Papierkorb gezählt, ganze dreiunddreißig Anläufe hatte er gebraucht, bis er mit seinem Text endlich zufrieden gewesen war. Er nahm die Sache sehr ernst, umso verwirrter war er nun von Herrn Durands wütendem Ausbruch. Seine Mutter meinte doch immer, dass man einem liebenden Herz nichts abschlagen konnte, wie konnte der schlaue Chefredakteur das nicht wissen?

„Soll ich Ihnen das Gedicht dann einfach gleich hier geben und sie drucken es morgen ab?“, hakte Louis nach, „Obwohl, ich hätte noch ein paar Anmerkungen in welcher Größe und welcher Schriftart ich es gerne hätte, aber ich kann Ihnen das auch schnell hier im Gang preisgeben.“

Durand stöhnte und seine noch müden Schläfen begannen zu pochen, während der Junge weiterredete. Er hatte doch noch nicht einmal einen Kaffee gehabt heute Morgen und er sah schon, dieser Louis war ein hartnäckiges Kerlchen.

„Komm“, grummelte er also und scheuchte den Buben den Korridor hinunter in sein Arbeitszimmer, wo er wusste, dass seine neu erworbene Espressomaschine auf ihn wartete.

Als die beiden eintraten, ließ Durand sich einen Doppelten herunter, während Louis das geräumige und helle Zimmer bestaunte. Jede Wand war mit Bücherregalen gesäumt, die zu überborden drohten, so umfassend und in hoher Zahl fanden sich darin Literaturwerke wieder. Auf dem Schreibtisch, der in der Mitte stand und aus einem der meterhohen Fenster hinaus in einen Innenhof und Garten schaute – ein akkurat gestutzter Rasen und überaus lieblicher Anblick der einem von der Straße verwehrt blieb – lagen unzählige Mappen und lose Notizen. Unter all dem Chaos blitzte die Chromoberfläche eines Laptops hervor und Durand setzte sich und legte seine Arme darauf. Er bedeutete dem Jungen sich gegenüber niederzulassen und Louis versank fast in einem der beiden Lederstühle, die so weich waren, dass er es plötzlich bereute so früh sein Bett verlassen zu haben. Aber, er war immerhin auf einer Mission, die nicht warten konnte.

„Morgen ist Valentinstag“, schoss er deshalb gleich los, während Durand seinen Espresso mit nur zwei Schlucken austrank und sich prompt einen neuen holte.  

„Und?“, fragte der Mann unbeeindruckt über das stetige Mahlen seines Vollautomaten hinweg.

Es war ein unvergleichlich lautes Gerät, aber es machte den besten Kaffee, für den Durand sogar gewillt gewesen war sein Büro vom Dachgeschoss – von wo aus er die ganze Stadt hatte sehen können – hier herunter zu verlegen, weil seine Frau in den frühen Morgenstunden nicht von dem ohrenbetäubenden Monstrum, wie sie es nannte, geweckt werden wollte.

„Nun ja, es ist äußerst wichtig, dass sich mein Gedicht in Ihrer Zeitung wiederfindet. Damit ich das Herz von meiner Elisa erobern kann“, erklärte Louis.

Durand schenkte sich ein Glas Wasser ein und überlegte eine Sekunde, ob er dem Jungen, der jede seiner Bewegung akribisch verfolgte, auch eines anbieten sollte. Aber dann entschied er sich dagegen und setzte sich wieder, der Bub der sich jetzt ein wenig nervös durch sein braunes Haar fuhr war schließlich nicht sein Gast, er war bloß ungebeten.

„Und wieso gibst du deiner Angebeteten den Zettel morgen in der Schule nicht einfach selbst?“

Louis begann mit seinen Füßen zu wackeln und unter dem Tisch spielte er heimlich und unruhig mit seinen Fingern, obwohl seine Mutter immer sagte, er solle in fremder Gesellschaft nicht so zappeln.

„Sie geht nicht in meine Schule.“

Durand nahm einen weiteren Schluck Kaffee.

„Dann bringst du ihn ihr eben bei ihr Zuhause vorbei. Du hast ja augenscheinlich keine Scheu davor, Leute in ihren eigenen vier Wänden zu stören.“

Aber der Junge schüttelte nur den Kopf und suchte nach einem Buch in den unzähligen Regalen, in dem sich sein Blick fangen konnte bevor er weitersprach.

„Ich weiß nicht wo sie wohnt.“

Durand machte ein missbilligendes Geräusch.

„Na, das lässt sich doch herausfinden. Du musst doch bloß ihren Namen im Internet suchen.“

Doch erneut verneinte Louis und nun sah er Durand wieder an, als er mit den Schultern zuckte und ein Knopf seiner zu engen Anzugjacke aufsprang.

„Ich darf noch nicht ins Internet. Meine Mutter sagt, ich bin noch zu jung für solche Sachen.“

Bei dieser Aussage war Durand froh, dass er und seine Frau nie Kinder bekommen hatten, eine Zeit lang mit Mitte Dreißig hatten sie doch tatsächlich mit dem Gedanken gespielt. Aber sich vorzustellen, dass es da einen kleinen Menschen gab, dem man Verbote auferlegen und um den man sich Sorgen machen musste, das jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er hatte genug zu tun mit der Belgischen Tagespost, genug Sorgen, die er sich in der Arbeit machen konnte und genug Verbote, die ihm seine Frau auferlegte, wie etwa nicht so viel Kaffee zu trinken. Es war gut, dass sie noch schlief, dachte Durand als er genüsslich einen weiteren Schluck nahm.

„Wie hast du mein Haus denn dann gefunden, ganz ohne Internet?“, fragte er.

„Mein Vater hat es mir einmal erzählt, als wir bei einem Spaziergang hier vorbeigekommen sind. Er meinte, sie waren einmal sein Professor auf der Uni, deshalb hat er gewusst wo Sie wohnen.“

„Ach ja?“ 

Durand sah sich den Jungen noch einmal genauer an, aber sein Gesicht erinnerte ihn nicht an einen seiner Studenten. Es war auch schon einige Jahre her, seit er ab und an eine Ehrenprofessur an seiner Alma Mater ausgeübt hatte. Als er daran dachte, spürte er förmlich seine Frau in seinem Nacken, wie sie stetig auf ihn einredete die Stelle wiederaufzunehmen, weil die beiden damals immer auf die elegantesten Galas eingeladen worden waren, mit denen sie dann ihre Freundinnen eifersüchtig gemacht hatte.

„Wer ist denn dein Vater?“

„Clement Bertrand“, entgegnete Louis.

Der Mann kniff die Augen ein wenig zusammen und mit der Morgensonne, die mittlerweile durch das Fenster in sein Büro schien, meinte er eine Spur von Rot in den Haaren des Jungen zu erkennen. Konnte es sein, dass dieser Clement der rothaarige Journalismusstudent gewesen war, der ihm immer so viele Fragen gestellt hatte und ihn nach der Vorlesung stets so lange aufgehalten hatte, weil er mit ihm noch über moralische Berichterstattung diskutieren wollte? Der Student war ein streberischer Eigenbrötler gewesen, Durand konnte sich gut vorstellen, dass er in diesem übereifrigen Louis tatsächlich seinen Sohn vor ihm sitzen hatte. Er wischte wahllos ein paar Zettel von seinem Tisch, bis der Laptop zum Vorschein kam und er ihn aufklappte.

„Na gut, dann suchen wir diese Elisa eben jetzt. Ich bin nämlich schon alt genug dafür. Wie ist ihr Nachname?“

Durand wollte diesen Quälgeist so schnell wie möglich wieder vom Hals haben und wenn das hieß, dass er ihm helfen musste, dann war das eben so.

„Ich kenne ihren Nachnamen nicht“, meinte der Bub.

Durand stutzte und schloss die Suchmaschine wieder, die er gerade eben mit seinem Laptop geöffnet hatte.

„Junge, dafür, dass du meinst dieses Mädchen sei die Liebe deines Lebens, weißt du erstaunlich wenig über sie.“

 Fortsetzung folgt... 

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